In den Bergen

Benedikt stand vor einer großen Milchkanne, die mit blauem Enzian, Arnika, Alpenrose und Glockenblume meisterhaft bemalt und mit kleinen und großen Wanderstöcken aus Haselnussholz bestückt war. Seine geschickten Hände suchten nach einem ganz bestimmten Gehstock, einem Haselstock mit Lederriemen und Knauf aus der Wurzel der Hasel, zart lackiert und mit einem Stocknagel Davos-Parsenn versehen. Unterhalb der Plakette war der Name des Buben eingebrannt: Benedikt.

Über den Tellerrand

Erst im vergangenen Sommer, beim letzten Besuch bei seinen Großeltern, gerade an seinem Namenstag, hatte er diese praktische und kunstvoll gemachte Gehhilfe von seinem Neni1 erhalten. Er griff nach dem Stecken, zog ihn aus der Kanne heraus, begutachtete ihn und klopfte ein paarmal mit der Spitze auf den Eichenholzboden der Diele. Gut lag er in der Hand, jetzt noch besser als vor fünf Monaten. Benedikt, voller Erwartung der nächsten Stunden, zog sich seine festen Bergschuhe an, gab die Gamaschen darüber, wickelte noch einen bunten Schal, den seine Tante Kathi für ihn gestrickt hatte, über die dicke Jacke um seinen Hals, setzte seine Lieblingsmütze auf und stapfte mit festem Schritt noch zur Küche, wo Nani2 gerade für ihn, seinen Großvater und Claudio eine Jause richtete: Feines Bauernbrot mit herrlich duftendem Schweizerkäse und Bündnerfleisch gefüllt. Tee und Brote wurden in den Rucksack verpackt und los ging´s! Noch einen Kuss auf die Wange von Nani, eine Streicheleinheit im Vorübergehen für den kleinen Kater Filo und draußen war er!

Im Hof wurde er schwanzwedelnd von Gosan, dem alten Jagdhund von Claudio begrüßt. Überschwänglich und voller Freude den Jungen zu sehen, jaulte er und tänzelte um ihn herum. Benedikt seinerseits entgegnete die Hundebegrüßung mit fröhlichem: „Hallo, Gosan!“ und wohlgefälligem Tätscheln des Hundekopfes. Beide hatten schon einiges miteinander erleben dürfen: bei den Bergwanderungen, bei den Festen, bei den abenteuerlichen Kinderspielen, wo der gutmütige Hund nie fehlen durfte und manchmal sich als Retter in gefährlichen Situationen bewährt hatte.

„Guten Morgen, Benedikt! Ich sehe, ihr beide seid schon sehr gespannt auf unseren Ausflug. So überdreht wie ihr seid!“ „Hoi, Claudio! Wo ist Neni?“ fragte Benedikt. „Ich denke,“ antwortete Claudio dem Jungen „er hat noch das Wildfutter zu holen. Du findest ihn sicher in der Garage.“ So gut es die Bergschuhe zuließen, lief Benedikt eiligst über den Hof um seinem Großvater beim Einladen des Futters zu helfen. „Hoi, Benedikt!“ rief ihm Neni schon von weitem entgegen. „Du kommst mir gerade recht. Du kannst die beiden Kübel nehmen und sie im Kofferraum verstauen.“ Das tat der Junge gerne. Überall dort zu sein, wo es notwendig ist, wo Hilfe gebraucht wird, das sieht Benedikt als seine Aufgabe an. Ganz selbstverständlich nahm er die Kübel und stellte sie ordentlich ins Auto. Bald waren die Vorbereitungen für die Wildfütterung erledigt und die Fahrgäste samt Hund eingestiegen. Der Forstwagen setzte sich in Bewegung. Benedikt winkte seiner Großmutter, die beim Fenster raus sah und ihnen eine gute Fahrt wünschte, noch zu. Dann überstürzte der Junge die beiden Männer mit Fragen über das neue Auto, das sich sein Großvater gekauft hatte, um seinen Pflichten als Jäger besser nach zu kommen. Dann sollten sein Neni und Claudio ihm über den Bestand des Viehs in ihrem Revier berichten. Benedikt war ein aufgeweckter Junge und saugte alle Informationen, die er bekommen konnte, gierig in seinen Kopf. Nun wollte er über das Verhalten und Befinden der Tiere im Gebirge im strengen Winter Bescheid wissen. Die beiden Männer freuten sich über den Wissensdurst des Jungen und gaben bereitwillig Auskunft.

Heuer hatte es schon bald zu schneien begonnen und der Schnee war liegen geblieben. Der eisige Wind gab seines noch dazu. Für die Menschen war es natürlich herrlich im Advent durch hohen Schnee zu stapfen und weihnachtlich gestimmt zu werden. Die Tiere jedoch wanderten mangels Futter von den Höhen herunter, dorthin, wo es für sie nicht ganz so streng war. Damit die Hirsche und Rehe die jetzigen Einstandsgebiete nicht verließen, um noch weiter unten, im Tal und Siedlungsraum nach Futter zu suchen, wurde eine Notmaßnahme in Davos eingesetzt. Im Tal hatte es ja kaum störungsfreie Räume mehr gegeben. Für die Wildtiere hatten Gefahren gelauert und es hatte ein Unfallsrisiko für Mensch und Verkehr bestanden.  So fanden dann punktuell Notfütterungen unter Anleitung der örtlichen Wildhut statt.

Benedikt hörte den beiden Männern aufmerksam zu und stellte ihnen viele Fragen. So verging die Fahrt, die zuerst durch das wunderschöne Dischmatal ging, dann hinauf über enge Kurven der Zielhütte unserer Fahrgäste entgegen, sehr schnell.

Dort angekommen schaute der Junge kurz in die Hütte und fand auf dem Kästchen neben dem Fenster seine kleine Zeichenmappe wieder, die er schon verloren geglaubt hatte. Er nahm sie an sich und steckte sie in seinen Rucksack. Voll Freude über den überraschenden Wiedergewinn schaute er glücklich durch die Fensterscheibe, wo weißblaue Eiskristalle glitzerten. Draußen zog sein Neni gerade den großen Holzschlitten aus dem Unterstand und beide Männer luden das mitgebrachte Heu darauf. Die Kübel wurden fachmännisch gut befestigt und mit Salzsteinen befüllt. Benedikt trat aus der Hütte und setzte seinen Stock zum Gehen ein. Es war gutes Wetter, sie würden gut vorankommen. Gosan musste an die Leine, auch wenn er nicht mehr der Jüngste war und ein folgsamer Jagdhund, sollte er durch sein Herumstöbern keine Wildtiere vertreiben.

Die Zweige der alten Kiefern spannten einen glitzernden Märchenbogen über die Hütte. Während er zu den Männern schritt, knirschte der Schnee. Die Furchen des Forstweges waren hart, der gefrorene Boden knackte unter den schweren Schuhen. Benedikt und Gosan gingen hinter dem Schlitten her, wo ihnen der Duft des Heus in die Nasen stieg. Manchmal tropfte es von den knorrigen Kiefern auf ihre Köpfe, dass sie sich schütteln mussten. Die Stille, die rings um sie war, wurde hin und wieder durch den Schrei eines Adlers, die pfeifenden Rufe der Alpendohlen oder das Hämmern eines Spechtes durchbrochen.

Der Weg führte nun ein Stück aufwärts und die beiden Männer hatten sich einiges zugemutet, den voll bepackten Schlitten zu ziehen. Auf einer Ebene angelangt, verschnauften sie und legten eine kleine Pause ein. Dann drängte sich Benedikt neben dem Schlitten vor und schwärmte in überschwänglicher Freude von Eiszapfen, die von mancher Kiefer runterhingen. In den zu Eis gefrorenen Tropfen spaltete sich der Lichtstrahl und wechselte die Farben von flimmernd blau auf rot und weiß. Der Junge erzählte von Schneekristallen, die in der Sonne glitzerten und Schnee vom Astwerk sich verbreiternd auf ihn niederstäubte und seine Nase bepuderte. Gehört hatte er ihn nicht als er fiel, meinte er und lachte. Die beiden Männer fielen in das Lachen ein und richteten sich wieder auf, um den Schlitten in Gang zu bringen. Das nächste Stück war etwas gemächlicher. Gosans Schnauze war ständig am Boden, anscheinend dürften interessante Düfte aufsteigen. Benedikt war in seinen Träumereien und fiel etwas von den beiden Männern ab. Anscheinend bemerkte Gosan die leichte Hand Benedikts, der gar nicht mehr auf Gosan achtete. Der Hund zog den Jungen förmlich ohne Widerstand in das Gebüsch, wohin ihn die Duftnote leitete. Gosan wurde die Leine schier zu kurz. Er röchelte während er schnupperte und sich durch den hohen Schnee kämpfte. Erst der Schlag eines dünnen Astes einer Felsenbirne auf die Stirn, ließ Benedikt wieder aufwachen. Kurz und kräftig schüttelte er seinen Kopf, um dann den Hund wieder fester an sich zu binden. Gosan ließ es geschehen und verwandelte sich wieder in den braven, gehorsamen Jagdhund. Gemeinsam waren sie gerade am Umdrehen als sie ein Knacken dünnen Holzes hörten. Beide wandten aufgeschreckt ihre Köpfe in die vermeintliche Richtung des Geräusches und entdeckten ein Reh, das sie erstaunt anblickte. Alle drei beäugten sich vorsichtig. Wie auf ein gemeinsames Kommando hörend, drehten sie sich um und gingen auseinander. Das Reh stapfte bedächtig zwischen den Bergginstern abwärts, Benedikt und Gosan suchten in ihren Fußstapfen wieder zurück zum Forstweg zu gelangen.

Als der Junge den Schlitten wieder in Sichtweite hatte, fing er an sich zu beeilen. Er wollte doch den beiden noch ein wenig anschieben helfen. Gut, dass er seinen Wanderstecken bei sich hatte. Der Weg war zeitweise eisig und holprig. Der Stock gab ihm Halt.

Der Junge hatte inzwischen den Schlitten erreicht und schob von hinten kräftig an. Die beiden Männer, vorne am Schlitten, hatten die Abwesenheit Benedikts und Gosans gar nicht bemerkt und wunderten sich über den Ruck, den sie plötzlich spürten. Bald war auch die letzte Steigung geschafft und der Schlitten kam vor dem Futterstand zu stehen. Das Heu war bald in die Tröge eingefüllt und die Salzsteine ausgelegt. Jetzt konnten sich die Männer getrost auf den Schlitten, den sie ungefähr fünfzehn Meter vom Futterbereich der Tiere abgestellt hatten, nieder lassen um ein wenig auszuruhen. Sie verspeisten mit gesundem Appetit die Jausenbrote und tranken den köstlichen Tee. Dabei hörten sie schmunzelnd dem Jungen zu, wie er über die Begegnung mit dem Reh erzählte. Benedikt beschrieb die Szene so genau und voller Begeisterung, dass die beiden Männer über die Fabulierkunst des Buben nur staunen konnten. Dann ließ sich auch der Junge endlich sein gut zubereitetes Bauernbrot schmecken und verstummte. Essen und reden gleichzeitig, ging dann doch nicht so gut. Und so wurde es auf einmal ganz still auf der Berganhöhe. Die drei Menschen öffneten ihre Ohren dem leisen Wind, dem feinen Schnee, der manchmal von den Ästen zu Boden fiel und dem zarten Winterpiepsen der Vögel. Sie lauschten in den Schnee, sie lauschten in den Stein, der hinter ihnen sich als kahler, steiler Felsen auftürmte, sie lauschten in den blauen Himmel, der manchmal helle Töne wie von kleinen Silberglöckchen ausspuckte.

Das beschauliche Hinhören wurde jäh durch ein Knacken von Ästen, Schneeknirschen und Hufgetrappel auf gefrorenem Boden durchbrochen. Zwei Hirsche und eine Hirschkuh waren zur Futterstelle gekommen, schnaubten und machten sich sichtlich hungrig über das herrliche Bergheu her.

Benedikt, sein Brot schon aufgegessen, war sprachlos ob der majestätischen Haltung der Tiere. Er bewunderte ihre Schönheit. Trotz der Kälte und strengem Winter war ihr Fell nicht so struppig wie er es von anderen Gegenden kannte. Ihr Geweih war stattlich und prächtig. Der Junge konnte sich gar nicht satt sehen an diesem schönen Gruppenbild mit „Dame“. Staunend schaute er den Dreien zu wie sie wieder würdevoll und gelassen die Futterstelle verließen und hinter einer Zirbe verschwanden.

Benedikt kraulte Gosan hinter seinem rechten Ohr und flüsterte ihm zu: „Brav warst, Gosan. Komm!“ Gosan wedelte mit seinem Schwanz und stand auf. Das Gruppenbild mit Hund löste sich und fuhr mit dem Schlitten am Weg talwärts zur Hütte, wo der Forstwagen geparkt war. Der Schlitten wurde wieder im Schuppen verstaut. Benedikt betrat die Hütte und legte einen Zirbenzapfen auf das Kästchen neben dem Fenster. Es soll ihn bei seinem nächsten Besuch an seine Begegnung mit dem Reh und den Hirschen erinnern. Lächelnd drehte er sich um, machte die Tür hinter ihm zu und sauste zu seinem Großvater, Claudio und Gosan, die schon im Auto auf ihn warteten.

Beim bergab Fahren bot sich Benedikt bei jeder Kurve ein wechselndes wunderschönes Gebirgspanorama. Beat und Claudio benannten die einzelnen Berge, das Sentischhorn, dahinter das Flüela Schwarzhorn und am Talende der Piz Grialetsch mit dem Grialetsch Gletscher. Von jedem Berg kannten sie Geschichten, von denen sie dem Jungen die spannendsten erzählten. So war die Fahrzeit schnell vergangen und das Haus der Großeltern war plötzlich neben dem Auto. Der Junge hatte es jetzt sehr eilig, stieß die Wagentür auf und stürmte in das Haus. „Nani, Nani, bist du da? Ich hab‘ dir so viel zu erzählen! Stell dir vor…“ Die gute Nani kam gerade die Kellerstiege hoch und umarmte den redefreudigen Jungen und sagte: „Hoi, Benedikt! Na, dann erzähl mal!“ und ging mit ihm in die Stube.

Beat und Claudio hatten inzwischen einen schönen Tannenbaum, den sie von der Berghütte mitgenommen hatten, aus dem Auto gehoben und auf die Terrasse hinter dem Haus gestellt. Mit so einem wohlgeratenen Tannenbaum und einem fröhlichen Jungen stand dem Weihnachtsfest ja nichts mehr im Wege.

Schöni Wiehnacht alle mitanand!

 


1 Schweizer Ausdruck für den Großvater

2 Schweizer Ausdruck für die Großmutter

Von: Emily Grey
Veröffentlicht: 07.12.2021